14. März 2024
Daniel Barenboim: "Uns läuft die Zeit davon"
Ihr existenzieller Konflikt ruinierte seit 1948 das Leben von Generationen von Palästinensern und Israelis. Wir haben jahrzehntelang unermessliche Verluste zu beklagen gehabt – und zeitweise schwache Hoffnungen gehegt, aber zu keinem Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit war die Situation so verheerend wie heute. Die barbarischen Angriffe der Hamas-Terroristen am 7. Oktober gehören zu den schlimmsten Terrorakten, die jemals gegen Zivilisten verübt wurden. Die übertriebene Grausamkeit der Terroristen, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, ist unfassbar. Mehr als 100 Geiseln werden bis heute festgehalten; ihr Schicksal ist unbekannt.
Nach dem Angriff startete das israelische Militär eine Luft-, See- und Bodenkampagne im Gazastreifen bei der nach vorsichtigen Schätzungen mehr als 30.000 Menschen getötet wurden, die überwiegende Mehrheit davon Zivilisten. Darüber hinaus wurden weite Teile des Stadtgebiets von Gaza verwüstet, Krankenhäuser, Schulen und andere wichtige Teile der zivilen Infrastruktur zerstört und 85 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens vertrieben.
Es handelt sich nicht um einen Konflikt unter Gleichen, und das war es auch nie. Ja, es ist ein menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die im Grunde genommen glauben, dass sie Anspruch auf dasselbe Stück Land haben. Aber die Art und Weise, wie der Konflikt ausgetragen wurde und auch heute noch ausgetragen wird, ist von einer tiefgreifenden Asymmetrie geprägt. Die Palästinenser haben keine funktionierende, einheitliche Regierung, geschweige denn eine Armee. Die verabscheuungswürdigen Hamas-Terroristen repräsentieren nicht das palästinensische Volk in seiner Gesamtheit. Die derzeitige israelische Regierung hingegen, die von einem abgewirtschafteten und umkämpften Netanjahu geführt wird, hat zumindest auf dem Papier ein demokratisches Mandat. Ihre Armee ist mächtig und genießt die – bisher – weitgehend bedingungslose Unterstützung des größten Militärs der Welt. Die völlige Missachtung des Schutzes der Zivilbevölkerung, die die israelische Regierung seit Oktober an den Tag legt, insbesondere in Verbindung mit rassistischer antipalästinensischer Rhetorik, ist grausam und verdient eine breite Verurteilung.
Ja, Israel hat das Recht, sich gegen den Terrorismus zu verteidigen, aber nein, Israel hat nicht das Recht, in diesem Prozess ein ganzes Volk auszurotten, auszuhungern und zu vertreiben.
Wir brauchen sofort einen dauerhaften Waffenstillstand, damit die dringend benötigte Hilfe die palästinensischen Flüchtlinge in Gaza erreichen kann. Die Hamas muss die verbleibenden Geiseln sofort freilassen und ihre Waffen niederlegen. Israel muss seine Kampagne einstellen, von Angriffen auf Rafah absehen und einen gangbaren Korridor für humanitäre Hilfe zulassen. Und wir brauchen beide Seiten, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Nach so viel Blutvergießen und unvorstellbaren Verlusten gibt es wirklich nur eine realistische Lösung: zwei Staaten, die in ihren Gebieten autonom sind; das Ende der Siedlungen im Westjordanland und die Verpflichtung beider Seiten zu einem dauerhaften Frieden. Uns läuft die Zeit davon, und künftige Generationen werden uns nie verzeihen, wenn wir wieder versagen.
Daniel Barenboim
Der Artikel wurde am Donnerstag, 14. März 2024, in DIE ZEIT veröffentlicht.